Hintergrund dieser Fragen ist die neugeregelte Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten. Die Gesetzesänderung wurde Ende 2021 von der damals noch regierenden GroKo verabschiedet und ist seither in Kraft. Um dieses komplexe Thema zu visualisieren, ein Beispiel:
In den 1980ern, als die DNA noch 8 Jahre braucht, um als Beweismittel im Strafprozess eingeführt zu werden und die Kriminaltechnik noch lange nicht auf dem heutigen Stand ist, wird Person A des Mordes angeklagt und freigesprochen. Jahre später werden Spuren gefunden und analysiert, die nun dem damaligen Angeklagten zugeordnet werden.
Die DNA-Analyse wurde erst durch das Strafverfahrensänderungsgesetz im März 1997 rechtlich geregelt.
Bis zum 30.12.2021 wäre es den deutschen Justizbehörden nicht möglich gewesen, diese Person erneut wegen derselben Sache anzuklagen.
Denn an die Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen sind gem. § 362 StPO hohe Maßstäbe gesetzt: So war eine Wiederaufnahme des Strafprozesses ausnahmsweise nur dann zulässig, wenn eine in der Hauptverhandlung zu Gunsten des Angeklagten vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war, Zeugen oder Sachverständige sich bei einem abgelegten Zeugnis oder Gutachten der (vorsätzlichen oder fahrlässigen) Verletzung der Eidespflicht oder der uneidlichen Aussage schuldig gemacht haben, ein Richter oder Schöffe in der Sache ihre Amtspflicht in strafbarer Weise verletzt haben oder wenn der Freigesprochene vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis abgelegt hat.
Übrigens: Die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten ist in § 359 StPO geregelt und lässt hingegen neue Tatsachen oder Beweismittel, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder die geringere Bestrafung begründen können, zu.
Grund für diese strengen Voraussetzungen ist das Spannungsverhältnis des § 362 StPO zu Art. 103 Abs. 3 GG, dem Doppelbestrafungsverbot. Der Grundsatz „ne bis in idem“ (nicht zweimal in derselben Sache) legt fest, dass jemand, der bereits rechtskräftig von einem deutschen Gericht verurteilt (oder freigesprochen) wurde, nicht wegen der gleichen Tat erneut bestraft werden kann.
Der Strafanspruch des Staates ist verbraucht. Hierdurch soll Rechtsfrieden geschaffen werden, der Angeklagte bzw. (nicht) Verurteilte soll nach Abschluss des Verfahrens sicher sein können, nicht erneut strafrechtlich wegen der Tat verfolgt zu werden.
Doch seit Ende des letzten Jahres ist durch die Nummer 5 des Katalogs in § 362 StPO eine weitere Ausnahme hinzugekommen, die zu einer zulässigen Wiederaufnahme führt: Werden neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht, die allein oder in Verbindung mit den damals erhobenen Beweisen dringende Gründe für eine hohe Wahrscheinlichkeit der Verurteilung des freigesprochenen Angeklagten geben, so bildet dies eine Ausnahme des Doppelbestrafungsverbots und eine Wiederaufnahme ist möglich.
Diese Neuregelung ist auf vier Straftaten begrenzt: Den Mord (§ 211 StGB), den Völkermord (§ 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) sowie Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuches).
Massive Bedenken werden neben der Vereinbarung mit dem Art. 103 Abs. 3 GG auch dahingehend geäußert, ob es tatsächlich bei den genannten Straftaten verbleibt, oder ob der Kreis der Delikte langfristig ausgeweitet wird. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es dem Rechtsempfinden der Bevölkerung widerstrebt, dass eine Wiederaufnahme bei Mord zulässig, bei schwerwiegenden Sexualdelikten jedoch weiterhin ausgeschlossen bleibt.
Nun wurde am Landgericht Verden ein Mann, der 1983 vom Landgericht Stade rechtskräftig freigesprochen wurde, wegen derselben Tat per Beschluss (Beschl. v. 25.02.22, Az. 1 Ks 148 Js 1066/22) in Untersuchungshaft geschickt und der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederaufnahme des Verfahrens für zulässig erklärt.
Hintergrund ist eine molekulargenetische Untersuchung der Spermaspuren an der Unterwäsche der Getöteten, die erst im Jahr 2012 auftauchten und somit neue Tatsachen darstellen. Diese DNA- Spuren konnten nun dem erneut angeklagten zugeordnet werden. Dies ist die erste Anwendung des neuen, ergänzten § 362 StPO.
Es bleibt abzuwarten, ob der neue § 362 Nr. 5 StPO der scharfen Kritik standhalten kann und welche „Cold Cases“ nun vielleicht doch noch vor Gericht landen.
Sehen Sie sich mit dem Vorwurf konfrontiert, eine Straftat begangen zu haben, so sollten Sie keine passive Rolle einnehmen, sondern schnellstmöglich anwaltliche Hilfe einschalten. Äußern Sie sich zu den Anschuldigungen nicht, bevor Sie keine Akteneinsicht haben und das weitere Vorgehen mit Ihrem Anwalt besprechen konnten.
Ismet H. wurde im Jahr 1983 rechtskräftig vom Vorwurf, er habe die 17-jährige Frederike von Möhlmann vergewaltigt und getötet, freigesprochen. 2021 wurde das Verfahren aufgrund neuer Beweismittel wieder aufgenommen. Dies war nur auf Grundlage einer neu eingeführten Vorschrift der Strafprozessordnung möglich: § 362 Nr. 5 StPO. Gegen diese wendete sich H. an das Bundesverfassungsgericht, welcher seiner Verfassungsbeschwerde stattgab (Urt. v. 31.10.2023, Az. 2 BvR 900/22). Der Zweite Senat erklärte § 362 Nr. 5 StPO für nichtig, die Vorschrift sei mit dem Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG sowie dem Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) nicht vereinbar. Die Norm stand von Beginn an im Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und dem staatlichen Strafanspruch und wurde daher scharf diskutiert.
Die durch ein rechtskräftigtes Urteil geschaffene Rechtssicherheit erstreckt sich auch darauf, dass sie nicht durch neue Tatsachen oder das Auftauchen neuer Beweismittel infrage gestellt werden kann, so das BVerfG. Jeder müsse darauf vertrauen dürfen, nicht wegen eines abgeurteilten Sachverhalts erneut belangt werden zu können. Der Grundsatz „ne bis in idem“, also „nicht zwei Mal in derselben Sache“, erkenne die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in einen Freispruch an; diesem Vertrauensschutz verleihe Art. 103 Abs. 3 GG Verfassungsrang.
Die Meinungen zu dieser Entscheidung des BVerfG sind geteilt: Während sie bei Juristen überwiegend auf Zuspruch stößt, löst sie in breiten Teilen der Bevölkerung Empörung und Unverständnis aus.