Ein Fall wie ein Alptraum, in dem nicht die Tathandlung fraglich ist, sondern das Vorliegen der Schuldfähigkeit geklärt werden muss. Nun befand das Landgericht Lübeck Philipp M., einen ehemaligen Staatsanwalt, wegen der Vergewaltigung seines Sohnes für schuldig.
In der Tatnacht zum 27. März 2019 betrat M. alkoholisiert das Zimmer seines achtjährigen Sohnes. Er fasste diesem in die Pyjamahose, berührte dessen Penis und Anus und nötigte ihn daraufhin gewaltvoll zum Oralsex. Das Kind vertraute sich seiner Mutter an, welche ihren Ehemann daraufhin mit den Vorwürfen konfrontierte. Dieser gab an, dem Jungen zwar zu glauben, sich aber an die Tat nicht erinnern zu können. Am Folgetag zeigte er sich selbst an.
Es war ein beschwerlicher Gang bis zur Hauptverhandlung. Diese fand letzten Endes nur aufgrund eines erfolgreichen Klageerzwingungsverfahrens statt. Sowohl die Staatsanwaltschaft Kiel als auch die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein hielten eine Verurteilung des Angeschuldigten für nicht wahrscheinlich und erhoben daher keine Klage. Hiergegen legte die Ex-Frau des Staatsanwalts bzw. die anwaltliche Vertretung ihres Sohnes, Beschwerde ein, die zunächst erfolglos blieb.
Schließlich führte ein Klageerzwingungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Schleswig dazu, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erheben musste. Dies ist außergewöhnlich, da Klageerzwingungsverfahren ganz überwiegend erfolglos bleiben.
Geregelt ist dieses Verfahren in § 172 StPO und lässt sich in drei Schritte aufteilen. Zunächst muss die Staatsanwaltschaft nach einer Anzeige das Ermittlungsverfahren einstellen. Der Verletzte muss sich im nächsten Schritt förmlich bei der Staatsanwaltschaft beschweren (hierfür ist regelmäßig der Generalstaatsanwalt zuständig). Erteilt dieser in der sog. Vorschaltbeschwerde einen ablehnenden Bescheid, kann der Verletzte dann einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung beim Oberlandesgericht stellen.
Dies ist hier den Anwälten des achtjährigen Geschädigten gelungen, ein hinreichender Tatverdacht wurde angenommen und es kam zur Hauptverhandlung.
Der angeklagte Staatsanwalt, mittlerweile frühzeitig in den Ruhestand versetzt, äußerte sich während der fünf Verhandlungstage nicht. Dass die Tat als solche stattgefunden hat, ist jedoch unstrittig. Kernfrage des Prozesses war die Schuldfähigkeit des M., der nach Angaben seiner Verteidigung an Sexsomnia leide. Hierbei handelt es sich um eine Schlafstörung, bei der Betroffene im Schlaf sexuelle Handlungen vornehmen und dabei nicht bei Bewusstsein sind. Nach dem Aufwachen können sie sich häufig nicht mehr an die Geschehnisse erinnern.
Diese besondere Art des Schlafwandelns kann grundsätzlich eine Bewusstseinsstörung darstellen und daher wiederum zum Ausschluss der Schuldfähigkeit eines Angeklagten während der Tathandlung führen.
Fraglich war, wie glaubhaft die Aussage des Angeklagten, Betroffener einer Sexsomnia zu sein, ist. Seine Ehefrau, die sich mittlerweile von ihm hat scheiden lassen, gab an, in den 13 Jahren Ehe noch nie eine solche Situation erlebt zu haben. Einmal habe M. unter dem Einfluss starker Medikamente im Schlaf uriniert, aber das sei das einzige Vorkommnis dieser Art gewesen.
Eine Ex-Freundin aus Studienzeiten, mittlerweile auch erfolgreiche Juristin, teilte dem Gericht hingegen mit, dass sie sehr wohl ähnliche Erlebnisse mit dem Angeklagten gehabt hatte. Sie hätten fünf bis zwanzig Mal „Schlafwandler-Sex“ gehabt. M. sei hierbei im Tiefschlaf gewesen und konnte hinterher auch nicht geweckt werden.
Konfrontiert habe sie ihn damit allerdings nie. Durch ein Gespräch mit ihr habe M. auch erst die Vermutung gehabt, an dieser Schlafstörung zu leiden. Zwei bis drei Wochen nach der Tat hat er im Internat auch nach den Begriffen „Sexsomnia“ u.ä. gesucht. Insgesamt fehlen in seiner Biografie aber jegliche belegbaren Anhaltspunkte für Schlafwandeln oder eine Schlafstörung.
Die Kieler Staatsanwaltschaft beantragte, den Angeklagten freizusprechen, sein Verteidiger schloss sich dem an. Anders sah es die Nebenklagevertretung und forderte eine Verurteilung wegen schweren Kindesmissbrauchs gemäß § 176c StGB.
Am 14. Februar (Az. 7a KLs 559 Js 20243/19 (1/23)) fällte das LG Lübeck nun das Urteil und beantwortete damit auch die Frage nach der Schuldfähigkeit des Angeklagten.
Er wurde wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern und sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Die Vorsitzende Richterin beurteilt die Aussage der Entlastungszeugin als unglaubwürdig.
Auch der Erklärung des Angeklagten glaubte das Gericht nicht und geht vielmehr davon aus, dass die Tat als dysfunktionale Bewältigungsstrategie zu verstehen ist. Der ehemalige Staatsanwalt habe unter beruflichem Druck gestanden und auch die Ehe war dem Ende geweiht. Der Missbrauch des Sohnes gab ihm für einen Moment das Machtgefühl zurück, so die Richterin.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Verteidigung des Angeklagten sowie die Staatsanwaltschaft haben angekündigt, in Revision zu gehen. Nun wird sich der Bundesgerichtshof des Falles annehmen.
Abschließend zeigt auch dieser Fall eindrücklich die Komplexität und die Herausforderungen, denen sich sowohl die Staatsanwaltschaft, das Gericht und vor allem auch die Verteidigung in schwerwiegenden Strafverfahren gegenübersehen. Die Rolle des Strafverteidigers ist dabei von besonderer Bedeutung, da er nicht nur die Interessen seines Mandanten vertritt, sondern auch die Rechtsstaatlichkeit gewährleistet und dazu beiträgt, das Machtgefälle, dem sich Angeklagte mit Blick auf die Staatsanwaltschaft und das Gericht ausgesetzt sehen, zu begradigen.